Eine Erinnerung

Wenn man vom Tod nicht reden mag: Ein Geburtstag bietet sich an. Nicht als eine Feier vom Ende, sondern als Erinnerung an den Anfang. Und daran, warum man sich manchmal besser freut – als dass man traurig ist. Aber auch daran, dass das Geheimnis oft darin liegt: Das eine nicht lassen, um das andere zu tun. Doch vom schwindelfreien, entgrenzten Grenzgänger Udo Jürgens, der es manchmal liebte, obenauf in alle Abgründe gleichzeitig zu blicken, ist gleich noch die Rede. Erst gibt es einen Blick in jenen Alltag, den er zu schätzen wusste. Jürgens war ein Poet des Lebens und seine Lieder sind eine Poesie des Alltäglichen. Das Kleine war sein Sujet, darin wurde er groß.

Geburtstag also. Ein Lalala-Tag. Es ist der 55. Festtag einer Freundin. Man feiert hinein, es gibt Musik, Essen Trinken, Freunde, Freude. Also alles, was aus dem Leben viel zu selten ein Fest macht im Sinne von Ernest Hemingway. Von dem stammt das Buch „A Moveable Feast“. Ein Fest fürs Leben. Darin geht es um Heiteres und Bitteres, um Kleines und Großes, Schönes und nicht so Schönes. Um das Leben, wie es ist – und wie es sein könnte, ja sein müsste. Somit wäre man bei Udo Jürgens, der eigentlich nicht mehr in unserem Leben ist, seit der in Klagenfurt, Österreich, geborene Künstler im Alter von achtzig Jahren in der Schweiz gestorben ist. Geboren wurde er als Jürgen Udo Bockelmann. Gestorben ist er nach einer sagenhaften, fast unwirklichen Karriere mit mehr als 100 Millionen verkauften Tonträgern allein im deutschen Sprachraum als popkulturelles Phänomen.

Als Phänomen mit einem gläsernen Flügel auf der Bühne. Zu dem sich am Ende, wenn nach seinen ausverkauften Konzerten in aller Welt endlich die Sprechchöre verhallen wollten, ein weißer Bademantel gesellte. Udo Jürgens‘ Rüstung: ein Bademantel – verausgabt, erschöpft, glücklich. Was sein Publikum angeht: gewiss.

Am 21. Dezember 2014 ist er gestorben. Zuvor, in der Schweiz, wollte er sich ein abermals neues Zuhause bauen. Udo Jürgens war immer die Utopie seiner selbst, unterwegs, neugierig, mit einem Bein schon im Morgen stehend. Bisweilen unbehaust. Suchend die Zukunft bereisend. Und doch ist Udo Jürgens auf eine Weise noch in diesem Leben einer Vergangenheit, die nachdenklich, melancholisch, aber auch froh macht.

Als es auf Mitternacht zugeht bei jenem Fest, das nicht dort, wo Hemingway lange lebte, stattfindet, sondern an einem kleinen Ort nahe München spielt, sagt die Jubilarin kurz vor Mitternacht: „Damit das klar ist, Stevie Wonder und Happy Birthday sind tabu heute. Ich kann es nicht mehr hören.“ Man erstarrt, denn es sind noch zwei Minuten vor dem Geburtstag und was ist vorbereitet? Das Tabu. Noch eine Minute bis Mitternacht.

Einer Eingebung zufolge spielt man das, was einem durch den Kopf geht: „Ich war noch niemals in New York“ von Udo Jürgens. Geschrieben hat er den Song (zusammen mit Michael Kunze) vor 40 Jahren. Es war nicht auf Anhieb ein Super-Hit. So wie heute. Jürgens war damals aber dennoch auf einem seiner vielen Höhepunkte einer bis heute nachhallenden Karriere. Das Lied handelt von einem Mann, der aus seinem Alltag fliehen will. Aus dem „neon-hellen Treppenhaus“, dem „Bohnerwachs“ und auch der „Spießigkeit“, die sich – so typisch wie elegant bei Jürgens, der nicht nur Chansonnier, sondern eher Chanteur, also Sänger und Poet in einem war – auf „alle Zeit“ reimt. Das ist schön, das ist bitter, das ist groß.

Als Udo Jürgens starb, schlich sich in das Moment der erwartbaren Trauer ein Augenblick der öffentlichen Bestürzung: Ja, klar, er war schließlich 80 und hatte bereits ein großes Leben gelebt, er hatte im Ruhm und in der Zuneigung seines Publikums gebadet. Aber doch: Wie konnte sterblich sein, was uns alle umfasste? Ein Werk, das im Grunde jeder Mensch in fast jeder Altersschicht und fast jeder Gesellschaftsschicht kennt, ob man nun Fan ist oder nicht. Das gilt auch für die von ihm so lässig und doch so präzise durchdacht vertonte Reise nach New York.

Man ist sofort, wie immer bei Jürgens‘ literarischer Musik, die oft auch eine musikalische Literatur ist, in dem Song drin. Im Treppenhaus, um Zigaretten zu holen, „es roch nach Bohnerwachs und Spießigkeit (…) ich müsste einfach gehen für alle Zeit“. Und dann noch einmal – so hoffnungsfroh wie hoffnungslos: „für alle Zeit“. Einfach gehen, nach New York, nach Hawaii, nach San Francisco. In zerrissenen Jeans, „einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehen“. Doch so leicht ist es nicht. Der Song endet mit „lala“ und „la“. Und dem Gedanken: „War was? / Nein, was soll schon sein“. Ein bisschen hat Udo Jürgens vielleicht auch immer über sich selbst gesungen. Auch er kannte die Zwänge (okay, es war nicht das Bohnerwachs). Und sowieso kannte er die Lust an der Flucht.

Ich war noch niemals in New York. Das stimmte natürlich nicht für Udo Jürgens, der in einer sagenhaften Karriere doch schon überall auf der Welt war. Der Kärnter war doch längst zum Weltbürger geworden. Und doch ist es wahr, ich war noch niemals…, denn jeder Mensch trägt ein eigenes New York im Herzen als Sehnsucht, die unstillbar ist, wo man auch sei. Es ist ein zugleich trauriger und heiterer Song. Und nun, beim Reinfeiern in einen Geburtstag im Osten von München, passiert etwas Magisches. Oder Logisches. Alle singen mit. Nicht allein die übliche U-50-Truppe. Sondern auch, natürlich, die Achtzigjährige und, das ist wirklich zum Staunen, ihre Enkel, die Anfang Zwanzig sind. Denn Udo Jürgens war mit allem, was ihn ausmachte, eines: ein Mann, der für das Volk als Ganzes spielte und sang. Nicht, um Volksmusik zu machen. Sondern um großen Emotionen Ausdruck zu verleihen, die wir alle kennen – und die im Idealfall in ganz kleine Songs passen. Ins Handgepäck des Lebens.

Ob „Griechischer Wein“, „Mit 66 Jahren“, „Merci, Chérie“ (Gewinner des Eurovision Song Contest 1966 in Luxemburg und der Durchbruch einer internationalen Karriere), ob „Siebzehn Jahr, blondes Haar“ oder „Ein ehrenwertes Haus“: Wenn man sich fragt, welche Sangeskunst einem auf einem beliebigen Geburtstag an einem beliebigen Ort in der Welt noch zum einigermaßen textsicheren Mittun verleiten kann, fallen jedenfalls dem Autor dieser Zeilen nur noch die „Beatles“ ein. Ist der Vergleich zu hoch gegriffen? Ja und nein.

Joachim Kaiser, der Kritikerpapst, auch schon tot wie viele der Großen, der ein überaus geschätzter Kollege des Autors war, sagte einmal sinngemäß: Udo Jürgens Größe kommt aus einem Gespür für das Kleine. Und aus einer Sehnsucht, die nicht nur die des Künstlers, sondern die der ganzen Gesellschaft ist. Das ist kein Lalala. Es ist Kunst. Udo Jürgens‘ Leben war nicht immer ein Fest. Aber immer der Versuch, eines zu sein. Man versteht das. Im Scheitern, im Gelingen und im Lalala.

Udo Jürgens, geboren 1934, also gerade noch hinein in den Beginn einer Moderne mit Bauhaus, Rock’n’Roll und schließlich Pop, gestorben 2014, also bald eine Epoche später in der Postmoderne der Gegenwart mit all ihren Ismen und Nischen, war eine Art singendes Lagerfeuer. Er versammelte Menschen über Grenzen hinweg. Jenseits sozialer, ökonomischer und politischer Differenzen konnte man sich für ein Lied oder einen Drink einigen auf die Strahlkraft seiner Kunst, von der selten jemand unberührt blieb.

Dabei durften seine Lieder alles sein, pathetisch, traurig, lustig, erhaben, alltäglich, sogar kitschig, wenn es denn sein musste (es musste manchmal sein). Ihre Glaubwürdigkeit bezogen die Songs aus Virtuosität, Professionalität und Authentizität. Udo Jürgens, der Hunderte von Liedern komponierte und mehr als 50 Alben veröffentlichte in den sechs prägenden Jahrzehnten eines enormen Schaffens, spielte in einer eigenen Liga und Komplexität. Großbürgerlich aufgewachsen ist er, doch das Klavierspielen brachte er sich selbst bei; die Schule hat er nicht abgeschlossen, später aber am Mozarteum studiert; er war ein Familienmensch – und zugleich ein Universum für sich; meisten prächtig gelaunt – mit einem Wissen um das Schattenhafte des Daseins; ein offenes Buch für alle seine Fans, und doch am Ende in einer weißen Bademantelrüstung sich verbergend. Er war immer dies und das zugleich. Vor allem aber war er Musiker, Komponist und Pianist. Dazu Entertainer, politisches Enfant terrible, Gesellschaftskritiker, Umweltfürsprecher, Traumtänzer, Realist. Er fehlt. Seine Lieder sind noch da. Sie bleiben. War was? Es ist.

 

Gerhard Matzig