Lieber Udo! Ein Brief von Textdichter Oliver Spiecker

 

Lieber Udo,

nun sind es schon zehn Jahre, und ich mag mich noch immer nicht daran gewöhnen. Aber wie du in so vielem besonders warst, hast du auch deine eigene Unsterblichkeit. Du bist und bleibst die innere Stimme, und deine Lieder sind lebendig wie die schönsten Arien aus Cosi fan tutte. Mozart hätte dich geliebt.

Am 11. Dezember 2014 hatten wir noch gemeinsam gefrühstückt, in deinem Einstein unter den Linden. Und die Pläne für das kommende Jahr waren groß. Du warst zu Gast in der Helene Fischer Show, und dein letztes Live-Lied hieß „Mein Ziel“. Dein letztes im Leben…

Zehn Tage später hattest du dein Ziel erreicht, nur viel zu endgültig!

Damals in Zürich wollte ich dich mit diesem Zettel überraschen: „Mein Ziel“, und du setztest dich prompt an dein Digital-Yamaha und wusstest aus dem Handgelenk die Melodie. Udo wie immer: Niemand spürte so sehr in den Worten die Töne wie du. Und niemand erkannte so lupenscharf die Schwachstellen in einem Text. Du warst dein bester Lektor und Dramaturg: der Zauberer und deine Dichter die Lehrlinge.

Es war irgendwann 1979, und ich staunte still in der fast leeren Berliner Philharmonie. Herbert von Karajan hatte dir „sein“ Orchester geliehen, und so saßen über hundert weltberühmte Berliner Philharmoniker auf der Bühne und du mit ihnen am Steinway: „Wort“! Dein erstes Lied mit großem Orchester. Und ich, der kleine Poet, war fassungslos und tief berührt. Das Album hieß „Udo 80“.

Jahrzehnte später packte dich die Angst vor der 80. Ich versuchte einen Trost mit Tony Bennett, der sich selber ein Konzert geschenkt hatte im ausverkauften Hollywood Bowl, zu seinem 87.! Es sollte nicht helfen… kurz vor Weihnachten traf uns alle der Schock: Der Titelsong „Mitten im Leben“ war plötzlich bittere Wahrheit.

Ich habe in all den Jahren manches schreiben dürfen, den Eurovision Song Contest für Désirée Nosbusch, die Goldene Kamera für Thomas Gottschalk, aber es ist mir größte Freude und Ehre, für dich Gedanken gefunden zu haben.

Merci, Génie!

 

Oliver Spiecker, Berlin, Januar 2024

Erinnerungen: Mit 66 Jahren

 

 

Von Wolfgang Hofer

 

Ich fand die Idee lustig. Udo als angehender Rentner sitzt abends am Kamin, das Feuer brennt, die Frau strickt, der Hund bringt die Pantoffeln, Idylle pur.

Ich hatte eine erste Version zu Papier gebracht und sie Udo gezeigt. Er hat gelesen und gab mir das Blatt postwendend wieder zurück: „So will ich absolut nicht sein, wenn ich 66 bin. Mach das anders!“

Ich war frustriert. Ich habe geflucht. Ich habe gegrübelt.  Dann ist mir der Knopf aufgegangen. Ich habe mich hingesetzt und die Geschichte in einem Zug aufgeschrieben. Das Ergebnis ist bekannt.

Manchmal ist ein widerspenstiger Künstler höchst hilfreich für den Erfolg.

Danke, mein Freund!

 

 

 

Foto: Archiv Udo Jürgens

Erinnerungen: "Buenos Dias, Argentina"

 

Von Wolfgang Hofer

 

Udo rief an. Er solle ein Album mit der Fußball-Nationalmannschaft machen. Für die WM 1978. „Ich brauche Ideen, ich brauche Texte, häng dich rein!“

Das war etwas für mich! Fußball fand ich schon als Kind super.

Neun Texte habe ich rausgehauen und damit den Großteil des Albums bestückt. Udo war mittlerweile nach Zürich auf den Sonnenberg umgezogen und wir verbrachten lange Nächte mit der Wahrheitsfindung. Der übliche Tagesablauf. Mittags Frühstück, dann ein Spaziergang oder kurz runter in die Stadt, vielleicht eine Ausfahrt mit seinem Boot am Zürichsee.

Ein bisschen Spaß, trotzdem schlechtes Gewissen. Wir hatten ja zu arbeiten. Also zurück nach Hause.

Udo an den Flügel, ich an die Papiere. Umschreiben, verbessern, neue Ideen notieren.

Am Abend raus zum Essen. Am liebsten in die Kronenhalle. Downtown Zürich, am Bellevue, mittendrin. Mit einer langen Liste von Promis, die hier schon gespeist hatten: James Joyce, Coco Chanel, Yves Saint Laurent, Marc Chagall, Frederico Fellini oder auch Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Carl Zuckmayer.

Und jetzt Wolfgang Hofer. Unter Originalgemälden von Marc Chagall und Joan Miró. Unglaublich!

Mein Standard-Menü: Züricher Geschnetzeltes, dann zum Nachtisch Mousse au Chocolat nach Art des Hauses.

Udo: „Schaut aus wie Hundekacke, aber so was Geniales hast Du im Leben noch nicht gegessen.“

Zuletzt ein Espresso, dann zurück auf den Sonnenberg.

Ich suchte im Keller nach einem leckeren Rotwein, Udo hatte schon den Flügel okkupiert.

Wir hoben die Gläser und ich offerierte ihm nach langem Zögern eine Zeile, für die ich mich eigentlich ein bisserl genierte: „Buenos Dias, Argentina“.

Und so wahr ich das hier aufschreibe: Udo überlegte kurz, krempelte die Ärmel hoch und sagte: „Könnte das eventuell so gehen?“

Dann griff er in die Tasten und spielte den Song von Anfang bis zum Ende. Ohne Textvorlage, ich hatte ja nur die Zeile geliefert.

Zum Glück hatte ich mein Kassetten-Diktiergerät eingeschaltet, so war alles festgehalten.

Dann war der Rotwein aus und es war weit nach Mitternacht.

Das Fußball-Album war Udos meistverkaufte Veröffentlichung überhaupt. Die Nationalmannschaft war dummerweise nicht so erfolgreich. Sie schied in der zweite Runde aus.

An uns hat es nicht gelegen!

 

Erinnerungen: Mein erster Text für Udo

 

Von Wolfgang Hofer

 

Als Udo 1966 mit „Merci Cherie“ den Grand Prix der Eurovision gewann, war ich 16 Jahre alt und vom Protestfieber erfasst, das Künstler wie Bob Dylan oder Joan Baez entfacht hatten.

Nie hätte ich gedacht, dass ich irgendwann mit diesem Schlaks am Klavier etwas zu tun haben würde.

Fünf Jahre später hatte ich als Sänger meinen selbst geschriebenen Hit vom „Trödler Abraham“. Udos Manager Hans R. Beierlein fand meine skurrilen Texte interessant und schickte mich zu seinem Künstler nach Kitzbühel.

Da ich nicht mit leeren Händen kommen wollte, grübelte ich, was für ein Text den großen Künstler wohl beeindrucken könnte. Ich erinnerte mich an die Schwarzweiß-Übertragung des Eurovisions-Wettbewerbs und schrieb für den Schlaks ein Liebeslied an sein Klavier.

Den Text hackte ich mit einer Olympia-Schreibmaschine auf orangefarbenes Papier, damit er auch im größten Stapel von Songvorschlägen nicht unterging.

So gerüstet fuhr ich mit weichen Knien von München nach Tirol..

Udos Haus war beeindruckend. Am Hang gelegen, das Klavierzimmer mit einem gewaltigen Panoramafenster und einem offenen Kamin.

Die Knie wurden noch weicher.

Wäre nicht nötig gewesen. Der Schlaks entpuppte sich als ganz normaler Kerl. Er stellte mir seine Kinder vor und auch die Haushälterin, die gerade Erdbeerquark für Johnny und Jenny anrührte. Einen sensationellen Erdbeerquark, von dem ich auch etwas abbekam.

Später nahm Udo den orangefarbenen Zettel, setzte sich an den Flügel und fing an, nach einer Melodie zu suchen. Ich hörte ihm – die Ellenbogen am Flügel aufgestützt – fasziniert zu. Wie so viele Male darauf in den vierzig Jahren unserer Zusammenarbeit.

Ich fand alles super, was ich hörte, aber er war er mit seiner Arbeit noch lange nicht zufrieden. Perfekt musste es sein, so perfekt wie es nur ging.

Da hatten sich zwei getroffen! Zwei Ösis und zwei I-Tüpfelreiter dazu. Das begleitete uns die ganze gemeinsame Zeit. Wir oft haben wir jeden Ton und jedes Wort umgedreht und auf die Goldwaage gelegt! Und das war gut so. Begabung ohne Sorgfalt ist für die Katz.

Gegen Abend fuhr ich zurück nach München. In der Nacht konnte ich kaum schlafen. Monate später wurde der Song auf dem Album „Ich bin wieder da“ veröffentlicht.

Bingo!

 

 

 

Foto: Archiv Udo Jürgens

Erinnerungen: Wer spinnt, wird nie alt

Oder: So kann’s kommen

 

Wer auf mich baut ist verlor’n,
Wer mit mir tanzt ist nie allein
Auf dem Seil ohne Halt.
Ich werd′ nie wieder geboren,
Bin nie der, den ihr meint.
Und vor allem – wer spinnt,
Wird nie alt!
Ich hab‘ genau so wie du
Meine Karte am Eingang bezahlt!

aus dem Lied „Deinetwegen“

 

Es war irgendwann im Jahr 1984. Ich saß zusammen mit zwei befreundeten Musikern in Mannheim im Studio, auf dem Tisch vor uns ein kleiner Berg mit Texten und Cassetten voller Songideen.

Wir planten Demos für eine Reihe von Rock- und Popsongs (ich mache mein ganzes Leben lang schon selber Musik).

Eine dieser auf dem Tisch liegenden Songideen trug den Titel ‚Meinetwegen‘.

Und dann meinte irgendwann einer meiner Musikerfreunde: „Eine schöne Idee für ein Chanson – aber, ist das wirklich etwas für unser Projekt? So etwas müsstest du an Udo Jürgens schicken …“

Wir lachten, machten ein paar witzige Bemerkungen – und arbeiteten weiter. Auf dem Heimweg dachte ich: ‚Mein Gott! Warum eigentlich nicht? Es kostet ein paar nette und freundlich formulierte Zeilen und ein kaum zu erwähnendes Porto‘.

Ein Münzwurf. Gesagt, getan.

Und dann vergaß ich das ganze Thema (das mag man jetzt glauben, oder auch nicht. Ich weiß, dass es so war …).

 

Wochen später klingelte das Telefon. ‚Guten Abend, hier ist Udo Jürgens …‘

Ich war damals sekundenlang absolut sicher, dass es sich um einen Telefonscherz handeln musste. Dass dem nicht so war, wurde dann aber schnell klar.

Wir unterhielten uns eine Weile, er meinte, ihm habe der Text zu ‚Meinetwegen‘ mehr als gefallen, und ob es noch weitere Texte gäbe, er würde sich freuen, wenn ich ihm eine kleine Auswahl zuschicken könnte.

Und abermals gesagt getan, aber dieses Mal vergaß ich das Thema – selbstverständlich – nicht.

Zwei Wochen später lud er mich nach Zürich ein, ‚wir sollten einmal miteinander reden …‘

Wir siezten uns anfänglich (eine der bemerkenswertesten Eigenschaften von Udo Jürgens war seine immer korrekte, stets eindrucksvoll höfliche und manchmal etwas aus der Zeit gefallen wirkende gentleman-like daherkommende Art. Ich gebe unumwunden zu, dass ich eher zu den Lederjacken tragenden Rockern gehöre. Wir haben uns trotzdem verstanden!), wir redeten über Musik und die Welt und bemerkten sehr schnell erstaunlich viele Gemeinsamkeiten hinsichtlich dessen, was ein Songtext kann, nicht kann, aber manchmal versuchen sollte. Und wir waren natürlich längst beim Du angekommen …

Und so wurde binnen weniger Stunden aus ‚Meinetwegen‘ ‚Deinetwegen‘.

Als ich an diesem Abend spät mit dem Zug nach Hause fuhr, hatte er mir noch zwei weitere Songvorlagen mitgegeben. ‚Kannst du auch englisch texten? Ich habe da eine wunderbare Sängerin, mit der ich ein Duett plane‘.

Die Hälfte des Textes von ‚Ich will, ich kann – I can, I will‘ ist während dieser Zugfahrt entstanden.

Dass aus diesem Treffen eine zwanzigjährige Zusammenarbeit entstehen würde, habe ich mir damals um nichts in der Welt vorstellen können.

Um manchen Text haben wir in den Folgejahren gekämpft und gestritten (Ich lass euch alles da, Wie im Himmel so auf Erden), bei manchen Texten wurde nicht ein Wort, nicht ein Komma geändert (In festen Händen, Die Krone der Schöpfung) und der ein oder andere Text ging in der Entstehungsphase eine Weile immer wieder durch den Fleischwolf ständig wechselnder und neuer Einfälle (Danke für den Abend, Mehr als nur vier Wände).

Die Jahre, die wir zusammengearbeitet haben, sind eine Zeit, die ich um nichts in der Welt missen möchte. Udos absolute Loyalität, was die Art der Arbeitsabläufe betraf, Treffen, die von wunderbarem Humor und endloser Fantasie geprägt waren und eine Organisation, die unmerklich und nahezu perfekt schnurrte wie das sprichwörtliche Schweizer Uhrwerk.

Wir wussten stets, dass es um Verbrauchslyrik geht, um den Moment.

Wenn der ein oder andere Satz, das ein oder andere Bild, der ein oder andere Gedankenanstoß ein wenig länger überdauert, sage ich: Danke schön!

 

Ich denke, er hätte das ähnlich gesehen.

 

Thomas Christen © 2023

 

 

Eine Erinnerung

Wenn man vom Tod nicht reden mag: Ein Geburtstag bietet sich an. Nicht als eine Feier vom Ende, sondern als Erinnerung an den Anfang. Und daran, warum man sich manchmal besser freut – als dass man traurig ist. Aber auch daran, dass das Geheimnis oft darin liegt: Das eine nicht lassen, um das andere zu tun. Doch vom schwindelfreien, entgrenzten Grenzgänger Udo Jürgens, der es manchmal liebte, obenauf in alle Abgründe gleichzeitig zu blicken, ist gleich noch die Rede. Erst gibt es einen Blick in jenen Alltag, den er zu schätzen wusste. Jürgens war ein Poet des Lebens und seine Lieder sind eine Poesie des Alltäglichen. Das Kleine war sein Sujet, darin wurde er groß.

Geburtstag also. Ein Lalala-Tag. Es ist der 55. Festtag einer Freundin. Man feiert hinein, es gibt Musik, Essen Trinken, Freunde, Freude. Also alles, was aus dem Leben viel zu selten ein Fest macht im Sinne von Ernest Hemingway. Von dem stammt das Buch „A Moveable Feast“. Ein Fest fürs Leben. Darin geht es um Heiteres und Bitteres, um Kleines und Großes, Schönes und nicht so Schönes. Um das Leben, wie es ist – und wie es sein könnte, ja sein müsste. Somit wäre man bei Udo Jürgens, der eigentlich nicht mehr in unserem Leben ist, seit der in Klagenfurt, Österreich, geborene Künstler im Alter von achtzig Jahren in der Schweiz gestorben ist. Geboren wurde er als Jürgen Udo Bockelmann. Gestorben ist er nach einer sagenhaften, fast unwirklichen Karriere mit mehr als 100 Millionen verkauften Tonträgern allein im deutschen Sprachraum als popkulturelles Phänomen.

Als Phänomen mit einem gläsernen Flügel auf der Bühne. Zu dem sich am Ende, wenn nach seinen ausverkauften Konzerten in aller Welt endlich die Sprechchöre verhallen wollten, ein weißer Bademantel gesellte. Udo Jürgens‘ Rüstung: ein Bademantel – verausgabt, erschöpft, glücklich. Was sein Publikum angeht: gewiss.

Am 21. Dezember 2014 ist er gestorben. Zuvor, in der Schweiz, wollte er sich ein abermals neues Zuhause bauen. Udo Jürgens war immer die Utopie seiner selbst, unterwegs, neugierig, mit einem Bein schon im Morgen stehend. Bisweilen unbehaust. Suchend die Zukunft bereisend. Und doch ist Udo Jürgens auf eine Weise noch in diesem Leben einer Vergangenheit, die nachdenklich, melancholisch, aber auch froh macht.

Als es auf Mitternacht zugeht bei jenem Fest, das nicht dort, wo Hemingway lange lebte, stattfindet, sondern an einem kleinen Ort nahe München spielt, sagt die Jubilarin kurz vor Mitternacht: „Damit das klar ist, Stevie Wonder und Happy Birthday sind tabu heute. Ich kann es nicht mehr hören.“ Man erstarrt, denn es sind noch zwei Minuten vor dem Geburtstag und was ist vorbereitet? Das Tabu. Noch eine Minute bis Mitternacht.

Einer Eingebung zufolge spielt man das, was einem durch den Kopf geht: „Ich war noch niemals in New York“ von Udo Jürgens. Geschrieben hat er den Song (zusammen mit Michael Kunze) vor 40 Jahren. Es war nicht auf Anhieb ein Super-Hit. So wie heute. Jürgens war damals aber dennoch auf einem seiner vielen Höhepunkte einer bis heute nachhallenden Karriere. Das Lied handelt von einem Mann, der aus seinem Alltag fliehen will. Aus dem „neon-hellen Treppenhaus“, dem „Bohnerwachs“ und auch der „Spießigkeit“, die sich – so typisch wie elegant bei Jürgens, der nicht nur Chansonnier, sondern eher Chanteur, also Sänger und Poet in einem war – auf „alle Zeit“ reimt. Das ist schön, das ist bitter, das ist groß.

Als Udo Jürgens starb, schlich sich in das Moment der erwartbaren Trauer ein Augenblick der öffentlichen Bestürzung: Ja, klar, er war schließlich 80 und hatte bereits ein großes Leben gelebt, er hatte im Ruhm und in der Zuneigung seines Publikums gebadet. Aber doch: Wie konnte sterblich sein, was uns alle umfasste? Ein Werk, das im Grunde jeder Mensch in fast jeder Altersschicht und fast jeder Gesellschaftsschicht kennt, ob man nun Fan ist oder nicht. Das gilt auch für die von ihm so lässig und doch so präzise durchdacht vertonte Reise nach New York.

Man ist sofort, wie immer bei Jürgens‘ literarischer Musik, die oft auch eine musikalische Literatur ist, in dem Song drin. Im Treppenhaus, um Zigaretten zu holen, „es roch nach Bohnerwachs und Spießigkeit (…) ich müsste einfach gehen für alle Zeit“. Und dann noch einmal – so hoffnungsfroh wie hoffnungslos: „für alle Zeit“. Einfach gehen, nach New York, nach Hawaii, nach San Francisco. In zerrissenen Jeans, „einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehen“. Doch so leicht ist es nicht. Der Song endet mit „lala“ und „la“. Und dem Gedanken: „War was? / Nein, was soll schon sein“. Ein bisschen hat Udo Jürgens vielleicht auch immer über sich selbst gesungen. Auch er kannte die Zwänge (okay, es war nicht das Bohnerwachs). Und sowieso kannte er die Lust an der Flucht.

Ich war noch niemals in New York. Das stimmte natürlich nicht für Udo Jürgens, der in einer sagenhaften Karriere doch schon überall auf der Welt war. Der Kärnter war doch längst zum Weltbürger geworden. Und doch ist es wahr, ich war noch niemals…, denn jeder Mensch trägt ein eigenes New York im Herzen als Sehnsucht, die unstillbar ist, wo man auch sei. Es ist ein zugleich trauriger und heiterer Song. Und nun, beim Reinfeiern in einen Geburtstag im Osten von München, passiert etwas Magisches. Oder Logisches. Alle singen mit. Nicht allein die übliche U-50-Truppe. Sondern auch, natürlich, die Achtzigjährige und, das ist wirklich zum Staunen, ihre Enkel, die Anfang Zwanzig sind. Denn Udo Jürgens war mit allem, was ihn ausmachte, eines: ein Mann, der für das Volk als Ganzes spielte und sang. Nicht, um Volksmusik zu machen. Sondern um großen Emotionen Ausdruck zu verleihen, die wir alle kennen – und die im Idealfall in ganz kleine Songs passen. Ins Handgepäck des Lebens.

Ob „Griechischer Wein“, „Mit 66 Jahren“, „Merci, Chérie“ (Gewinner des Eurovision Song Contest 1966 in Luxemburg und der Durchbruch einer internationalen Karriere), ob „Siebzehn Jahr, blondes Haar“ oder „Ein ehrenwertes Haus“: Wenn man sich fragt, welche Sangeskunst einem auf einem beliebigen Geburtstag an einem beliebigen Ort in der Welt noch zum einigermaßen textsicheren Mittun verleiten kann, fallen jedenfalls dem Autor dieser Zeilen nur noch die „Beatles“ ein. Ist der Vergleich zu hoch gegriffen? Ja und nein.

Joachim Kaiser, der Kritikerpapst, auch schon tot wie viele der Großen, der ein überaus geschätzter Kollege des Autors war, sagte einmal sinngemäß: Udo Jürgens Größe kommt aus einem Gespür für das Kleine. Und aus einer Sehnsucht, die nicht nur die des Künstlers, sondern die der ganzen Gesellschaft ist. Das ist kein Lalala. Es ist Kunst. Udo Jürgens‘ Leben war nicht immer ein Fest. Aber immer der Versuch, eines zu sein. Man versteht das. Im Scheitern, im Gelingen und im Lalala.

Udo Jürgens, geboren 1934, also gerade noch hinein in den Beginn einer Moderne mit Bauhaus, Rock’n’Roll und schließlich Pop, gestorben 2014, also bald eine Epoche später in der Postmoderne der Gegenwart mit all ihren Ismen und Nischen, war eine Art singendes Lagerfeuer. Er versammelte Menschen über Grenzen hinweg. Jenseits sozialer, ökonomischer und politischer Differenzen konnte man sich für ein Lied oder einen Drink einigen auf die Strahlkraft seiner Kunst, von der selten jemand unberührt blieb.

Dabei durften seine Lieder alles sein, pathetisch, traurig, lustig, erhaben, alltäglich, sogar kitschig, wenn es denn sein musste (es musste manchmal sein). Ihre Glaubwürdigkeit bezogen die Songs aus Virtuosität, Professionalität und Authentizität. Udo Jürgens, der Hunderte von Liedern komponierte und mehr als 50 Alben veröffentlichte in den sechs prägenden Jahrzehnten eines enormen Schaffens, spielte in einer eigenen Liga und Komplexität. Großbürgerlich aufgewachsen ist er, doch das Klavierspielen brachte er sich selbst bei; die Schule hat er nicht abgeschlossen, später aber am Mozarteum studiert; er war ein Familienmensch – und zugleich ein Universum für sich; meisten prächtig gelaunt – mit einem Wissen um das Schattenhafte des Daseins; ein offenes Buch für alle seine Fans, und doch am Ende in einer weißen Bademantelrüstung sich verbergend. Er war immer dies und das zugleich. Vor allem aber war er Musiker, Komponist und Pianist. Dazu Entertainer, politisches Enfant terrible, Gesellschaftskritiker, Umweltfürsprecher, Traumtänzer, Realist. Er fehlt. Seine Lieder sind noch da. Sie bleiben. War was? Es ist.

 

Gerhard Matzig

Udo Jürgens: "Das Glück ist ein flüchtiger Vogel"

ZEITmagazin Nr. 36/2014 28. August 2014

 

Worauf kommt es im Leben an? Ein Gespräch mit Udo Jürgens vor seinem 80. Geburtstag Von Giovanni di Lorenzo

ZEITmagazin: Herr Jürgens, vor 35 Jahren war ich Hospitant bei der Hannoverschen Neuen Presse. Ich möchte Sie nicht beleidigen, aber mit der Musik von Udo Jürgens konnte ich damals nichts anfangen …

Udo Jürgens: … das kann ich verstehen.

ZEITmagazin: Aber ich kann mich heute noch daran erinnern, dass Sie damals einer Kollegin in einem Interview ganz uneitel sagten: Ich hätte so gerne eine andere Stimme.

Jürgens: Das stimmt. Eine andere Stimme, ja.

ZEITmagazin: Was hätten Sie denn gerne für eine Stimme gehabt?

Jürgens: Ich habe eine Moderatorenstimme. Ideal, um den Leuten im Fernsehen etwas zu erklären. Aber um als Sänger Karriere zu machen, braucht man eine Stimme, die den Text nicht so wichtig macht. Eine Stimme wie die von Elton John, die keine tiefen Resonanztöne hat, sondern nur Höhen. Das lässt sich leicht einmischen in eine Pop-Produktion. Ich musste also einen Weg finden, damit ich mit meiner Stimme etwas erzähle.

ZEITmagazin: Das haben Sie sich bewusst vorgenommen?

Jürgens: Ja, und daher kommen Lieder wie Ich war noch niemals in New York oder Mein Bruder ist ein Maler, in denen ich Geschichten erzähle. Sie haben nur das Manko, dass die Leute von Anfang bis Ende zuhören müssen. Das ist für die Karriere eines Popsängers das Schlechteste.

ZEITmagazin: Mit diesem Manko sind Sie aber weit gekommen!

Jürgens: Wissen Sie, warum? Die Leute haben meine Lieder wie ein Buch gelesen oder wie den Soundtrack zu einem Film wahrgenommen. Das ist heute noch so, auch in meinen Konzerten, dass die Lieder mit Geschichten die Leute am tiefsten berühren. Das liegt an der Verfärbung der Stimme.

ZEITmagazin: Insofern haben Sie doch einen großen Vorteil.

Jürgens: Das hat sich dann herausgestellt, dass das mein Kapital ist. Bei mir kommt’s auf den Text an, wie im französischen Chanson. Gilbert Bécaud, Jacques Brel, die haben alle nur Geschichten erzählt. Das ist ein wunderschöner Gedanke, in der Musik eine Form von Literatur zu haben. Aber so etwas in Deutschland auszusprechen ist schon ein schwerer Frevel. (lacht) Eigentlich gibt es ja kein deutsches Chanson. Aber bei mir gibt es so etwas Ähnliches.

ZEITmagazin: Mir fällt noch ein Sänger ein, der aus einer begrenzten Stimme durch seine Technik unglaublich viel gemacht hat: Frank Sinatra.

Jürgens: Das ist für mich das größte Vorbild aller Zeiten. Frank Sinatra hat etwas erfunden, worauf ich heute aufbaue. Er hat gesagt, wenn du sprichst, verwendest du Töne. Man muss aus der Sprache heraus singen und versuchen, die Töne auf den verschiedenen Längen und in verschiedenen Lagen zu halten. Wenn das gelingt, wird ein Gesang unglaublich natürlich.

ZEITmagazin: Hat Frank Sinatra Ihnen das persönlich gesagt?

Jürgens: Nein, ich habe ihn leider Gottes nicht gekannt, obwohl ich ein Lied für ihn geschrieben habe: If I Never Sing Another Song. Er hat es dann nicht selbst gesungen, aber er hat es zwei Jahre lang in der Schublade liegen gehabt, und dann hat er es Sammy Davis Jr. gegeben. Damit hat der dann immer seine Konzerte beendet.

ZEITmagazin: Sehen Sie sich eigentlich in erster Linie als Komponist oder auch als Liedermacher?

Jürgens: Ich bin in erster Linie Komponist. Ich weiß, das ist ein großes Wort. Wenn ich an Daniel Barenboim und ich weiß nicht wen denke: Die würden jetzt vielleicht sagen: „Na, na, na, der Junge nimmt den Mund ein bisschen voll.“ Ich fühle mich als ein Liederkomponist: Alle meine Lieder habe ich ohne Ausnahme selbst komponiert.

ZEITmagazin: Die Texte dazu haben dann zum Beispiel Michael Kunze oder Joachim Fuchsberger geschrieben. Haben Sie denn an den Zeilen mitgearbeitet?

Jürgens: Sehr viel sogar. Das war immer eine großartige Zusammenarbeit. Mein Bruder ist ein Maler ist ein typisches Beispiel. Da habe ich zum Wolfgang Hofer gesagt: „Hör zu, mein Bruder und ich haben gestern die halbe Nacht darüber geredet, wer glücklicher ist, wenn er über seine Arbeit nachdenkt: der Maler, der das Bild bei sich an der Wand hat und immer drauf gucken kann, aber es ist still in dem Raum. Oder der Musiker, der auf der Bühne der Mittelpunkt der Welt ist, aber wenn sein Lied verklungen ist, dann ist es weg.

ZEITmagazin: Letztlich dreht sich das Lied doch um die Frage, wer es schafft, das bessere Leben zu führen.

Jürgens: Ja, natürlich. Und jeder ist der Meinung, der andere hat’s besser.

ZEITmagazin: Was macht denn für Sie ein gutes Leben aus: anhaltende Zufriedenheit oder immer wieder kurze Momente großen Glücks?

Jürgens: Ich würde sagen, das mit den Glücksmomenten. Mein Bruder ist eher der Typ zufriedenes Leben. Man muss natürlich wissen, das Glück ist ein flüchtiger Vogel. Er setzt sich bisweilen auf deine Schulter und beschenkt dich mit seiner Gegenwart, aber er ist ganz schnell wieder weg. Du musst jeden Glücksmoment mit einem traurigen Moment bezahlen. Das ist der Ausgleich im Leben. Man sehnt sich immer nach dieser friedlichen Variante, besonders wenn man älter wird. Aber kaum ist man zufrieden, beginnt einen diese Zufriedenheit zu langweilen. Und dann erinnert man sich an diese Momente … wie damals, als ich in Peking auf der Bühne stand und chinesische Studenten Schilder hochgehalten haben: „17 Jahr’, blondes Haar“, „Udo, we love you“.

ZEITmagazin: Das war so ein Glücksmoment?

Jürgens: Das ist ein Augenblick, in dem du dich auch selbst überschätzt. Wenn du auf der Bühne gewinnen willst, musst du denken, du bist die Erdachse. (lacht) Du musst das Gefühl haben, die Erde dreht sich jetzt an einer Achse, die du bestimmst, solange du hier stehst. Und all die vielen Milliarden Menschen, die das nicht miterleben können, die sind arm dran. Aber du musst wissen: Wenn das vorbei ist, bist du genauso schnell wieder unten und noch tiefer. Du gehst aus dem Theater raus, vielleicht durch einen Hinterhof, wo kein Mensch ist, oder es kommt dir irgendeiner entgegen, der dich nicht kennt: Und du bist gar nichts mehr. Dieser Beruf lebt von der Erinnerung.

ZEITmagazin: In welchen Situationen kommt bei Ihnen dieser „tipping point„, in dem das Hochgefühl sich ganz schnell in Melancholie umkehrt oder sogar in eine Depression?

Jürgens: Das sind Situationen, die sich aus dem Alltag ergeben. Wenn die Alltagsprobleme wieder reingeschwemmt werden in die Euphorie. Mit dem nächsten Telefonat ist bereits das erste Problem da, das man nicht gleich lösen kann. Da färbt sich die Stimmung um, sie wird grauer.

ZEITmagazin: Sie haben viele, viele Jahre an Schlaflosigkeit gelitten.

Jürgens: Ja. Ich weiß nicht, warum, aber inzwischen schlafe ich wunderbar. Auf meinem Nachtkästchen liegt keine einzige Tablette mehr.

ZEITmagazin: Schlaflosigkeit wird oft als Symptom von Depressionen gewertet.

Jürgens: Ich glaube, in dieser Zeit der Euphorie war ich auch immer sehr deprimiert, weil es eben ein Scheinglück ist, kein wahres, tiefes, bleibendes Glück. Das hat sich auch in meinem Privatleben geäußert: Ich habe mich als jüngerer Mann wahnsinnig schnell verliebt, aber sehr oft in meinem Leben hat sich auch schnell eine gewisse Ernüchterung eingestellt. Letztlich ist es vermutlich die zweite Variante, die Zufriedenheit, die im Leben die bedeutendere ist. Aber wenn du die Phase der Euphorie nicht erlebt hast und die Phase der Traurigkeit, dann wirst du nichts Bedeutendes schaffen. Wenn du Musik machen willst, wenn du schreiben willst, wenn du auch literarisch tätig sein willst, mit der Sprache umgehen willst, dann musst du von Euphorie in Traurigkeit verfallen.

ZEITmagazin: Wenn Sie das so schildern, wie Sie sich auf der Bühne fühlen, das klingt ein bisschen wie das Glücksgefühl eines Kindes, das von Mama oder Papa hochgehoben wird und dem gesagt wird: Du bist toll!

Jürgens: Wunderbar, das ist es! Mein Vater hat mich früher natürlich genauso hochgeworfen und wieder aufgefangen. Da haben wir gejuchzt und gejubelt. Wir drei Jungs haben meinen Vater sehr geliebt und auch sehr respektiert. Er hat uns niemals geschlagen, wie es damals gang und gäbe war.

ZEITmagazin: Gab es in Ihrer Schule noch die Prügelstrafe?

Jürgens: Aber wie! Mit einem Stock, dem „Spanischen“. Der Lehrer hat uns knien lassen, wenn er den Spanischen geholt hat. Und wir mussten uns in einen schmalen Spalt hinter den Ofen zwängen und da eine halbe Stunde bleiben. Der Ofen war geheizt, also bekamen wir einen hochroten Kopf und sind manchmal auch ohnmächtig geworden. Das war eine Vorstufe der Folter, heute würden die Leute dafür eingesperrt.

ZEITmagazin: Konnten Sie zu Hause davon erzählen, wie furchtbar es in der Schule war?

Jürgens: Das haben wir erst ganz spät gemacht, denn die oberste Tugend war die Disziplin. Nicht bei meinen Eltern, aber wir wollten alle in die Hitlerjugend. Das war unser großes Ziel – oder wenigstens als Zehnjähriger schon mal ins Deutsche Jungvolk, die Vorstufe zur Hitlerjugend. Du warst ein Arsch, wenn du da nicht drin warst. Beim Jungvolk kriegte man eine schwarze Hose und einen Gürtel oder ein braunes Hemd, sodass einen kein Mensch mehr schlagen durfte.

ZEITmagazin: Aber was macht die Hitlerjugend mit so einem Jungen, wie Sie es damals waren?

Jürgens: Das ist natürlich eine gefährliche Entwicklung. Wenn du geistig über diese festgebrannten Formen nicht hinauskommst, dann bleibst du dein Leben lang Nazi. Solche Menschen habe ich reichlich kennengelernt.

ZEITmagazin: Der schwarz-braune Aufzug beim Jungvolk hat Sie aber nicht vor Schlägen bewahrt: Ein Jungenschaftsführer hat Sie da so brutal geohrfeigt, dass Ihr Trommelfell geplatzt ist …

Jürgens: … und zwar weil die Uniform nicht richtig saß. Bis heute kann ich auf dem linken Ohr nicht richtig hören.

ZEITmagazin: Waren Sie enttäuscht, dass Ihr geliebter Vater danach nicht eingegriffen hat?

Jürgens: Nein, ich wusste, da geht es um was Großes. Zu Hause hat mich mein Vater in den Arm genommen. Er hat gesagt: „Du gehst da nie mehr hin, du schmeißt die Klamotten in die Ecke.“ Ich wollte auch nicht mehr, aber ich habe meinen Vater gefragt, warum? Da hat er geantwortet: „Warte noch ein Weilchen, ich werde dir alles erklären.“ Er wusste, dass der Krieg in ein paar Monaten zu Ende sein würde.

ZEITmagazin: Und hat er Wort gehalten?

Jürgens: Sofort. Er hat zu uns gesagt: „Ihr werdet jetzt überall merken, dass eine neue Zeit beginnt.“ Er meinte, dass er Angst gehabt hatte. Wir Kinder wussten auch, dass man von der Gestapo abgeholt wurde, wenn man sich kritisch äußerte. Einer unserer Nachbarn in Kärnten, ein alter Bauer, der hatte gesagt: „Der Krieg ist doch sowieso verloren.“ Als er abgeholt wurde, wollte mein Vater ihn retten, um jeden Preis. Er hat diesen Bauern aufgefordert: „Sag doch endlich, dass du das nicht so gemeint hast!“ Da hat der Bauer geantwortet: „Warum soll ich nicht sagen, dass der Krieg verloren ist? Das kann doch jeder sehen!“ Da konnte mein Vater ja schlecht sagen: „Ja, recht hast du.“ Dann hätten sie ihn gleich mitgenommen.

ZEITmagazin: Was geschah mit dem Bauern?

Jürgens: Er wurde erschossen, zwei, drei Tage vor Kriegsende. Wir Kinder wussten, wenn die Engländer mit ihren Panzern kommen, wird es anders, dann wird es freier. Aber wir wussten nicht genau, warum. Wir lebten ja auf dem Land, weit weg von allem.

ZEITmagazin: Sie sind auf Schloss Ottmanach aufgewachsen, einem wunderschönen gelb-weißen Gutshof in Kärnten.

Jürgens: Ich habe dort 20 Jahre meines Lebens verbracht. Da gab es keinen Garten, sondern einen Park, einen großen Pool. Es war alles da. Jedenfalls habe ich damals langsam begriffen, dass wir in einem Regime gelebt hatten, in dem es lebensgefährlich war, Kritik zu üben. Viele, die sich heute zu der Nazizeit äußern, verstehen das nicht. Deswegen spreche ich nicht von der Gnade der späten Geburt, sondern von der Gnade der frühen Geburt. Für mich ist das einzig Positive an der Tatsache, dass ich jetzt 80 werde, dass ich Augenzeuge und Gefühlszeuge einer unverstandenen Epoche war. Deswegen habe ich auch überhaupt kein Problem damit, zu sagen, dass ich im Jungvolk gewesen bin. Denn was weiß schon ein Zehnjähriger? Der begreift das alles nicht, und ich hab’s auch nicht begriffen.

ZEITmagazin: Es fällt auf, dass Sie in Interviews immer wieder von Ihrem Vater erzählen, aber ganz wenig von Ihrer Mutter.

Jürgens: Da tun wir ihr wahrscheinlich unrecht. Sie war eine sehr fröhliche Frau, aber auch sehr bestimmt. Das hat vielen nicht gepasst. Sie war ungeheuer emanzipiert, was für die damalige Zeit ganz ungewöhnlich war.

ZEITmagazin: Hat man die Kinder damals sehr umsorgt, oder lebten die eher selbstständig?

Jürgens: Die lebten sehr selbstständig. Es war ein herzlicher Umgang, aber verzärtelt wurde man nicht. Mit mir musste meine Mutter aber sehr behutsam umgehen, weil ich jahrelang jede Nacht Albträume hatte. Meine Mutter hat mich dann herumgetragen, weil ich immer geschrien habe, aber nicht gleich aufgewacht bin.

ZEITmagazin: Wovon haben Sie geträumt?

Jürgens: Das waren ganz seltsame, surrealistische Bilder. Surrealismus in der Malerei ist für mich eine relativ realistische Angelegenheit. Da war zum Beispiel eine Säule, die immer größer wurde und sich immer schneller gedreht hat. Das ging gefühlte Stunden, und am Schluss rotierte die wie ein Flugzeugpropeller. Das war wahrscheinlich der Augenblick, in dem ich zu schreien begann.

ZEITmagazin: Wurden Sie in der Schule gehänselt?

Jürgens: Ja, stark. Die haben mich Schwächling genannt. Das war in der Nazizeit das Allerschlimmste. Ich war sehr dünn und im Sport miserabel, beim Laufen war ich immer der Letzte. Das ist absolut tödlich für das Selbstbewusstsein eines Kindes, einfach entsetzlich. Ich habe mich immer gefragt: „Was soll aus mir werden?“

ZEITmagazin: Und Ihre Eltern? Was haben die gedacht?

Jürgens: Ich habe mitgehört, wie mein Onkel Erwin und die anderen zu meinem Vater gesagt haben: „Der Junge guckt aus dem Fenster und träumt. Dem muss man mal die Hammelbeine langziehen!“ Aber dann habe ich mir das Klavierspielen beigebracht. Mein Vater hat mich nachts einmal überrascht. Da habe ich recht hübsch gespielt und schon Stücke geschrieben – die sollten in der Art von Chopin sein. Das hat meinen Vater total berührt. Er hat dann der Verwandtschaft gesagt: „Hört zu, ich weiß, was in dem steckt, und wir wissen alle nicht, was daraus wird. Aber ich werde ihm jetzt die Chance geben, das zu probieren.“ Gott sei Dank ist er belohnt worden.

ZEITmagazin: Haben Sie lange um die Anerkennung Ihrer erfolgsverwöhnten Familie ringen müssen?

Jürgens: Ja, sehr. Mein Großvater hat fünf Söhne bekommen, in denen er die halbe Zukunft Deutschlands gesehen hat. Er war Großbankier in Moskau und in die Staatsgeschäfte des Zaren involviert. Das private Geld der Romanows, aber auch das Staatsgeld, lag auf der Bank Junker in Moskau – und das war die Bank, die zu 50 Prozent meinem Großvater Heinrich Bockelmann gehörte. Er ist damals nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit einem Viehwagen aus Russland nach Schweden geflüchtet, und er ist da sofort wieder auf die Beine gekommen …

ZEITmagazin: … diese Eigenschaft haben sich die Banker bis heute bewahrt …

Jürgens: … ja, aber die hießen damals nicht Banker, sondern Bankiers. Mit einem leicht französischen Akzent. Mein Großvater hat von Schweden aus versucht, sich wieder in die Geschicke Deutschlands einzumischen. Sein Hauptanliegen war, wie man diesen Krieg beenden kann. Er hat zum deutschen Reichskanzler und zum Kaiser Verbindung aufgenommen. Es gibt noch Briefe, die sie sich gegenseitig geschrieben haben. Mein Großvater hat auch initiiert, dass 1917 dieser Sonderzug mit Lenin und diesen „kommunistischen Rabauken“, wie er sie nannte, nach St. Petersburg fuhr. Er sagte, wir haben nur eine Chance, wir müssen Russland innenpolitisch schwächen, indem wir ein paar Terroristen ins Land schicken.

ZEITmagazin: Da hat er sich leider vertan.

Jürgens: Das kann man wohl sagen. Es wurde eine Weltrevolution daraus.

ZEITmagazin: Was ist das Schlimmste, was Ihnen aus der Zeit des Krieges in Erinnerung geblieben ist?

Jürgens: Das Schlimmste passierte ausgerechnet nach dem Krieg. Das war in der Lüneburger Heide, auf dem Landgut meines Großvaters. Mein älterer Bruder und ich haben gesehen, wie die belgischen Soldaten, teilweise besoffen, mit den Nazi-Kollaborateuren umgegangen sind. Die haben ihre eigenen Landsleute, die zu den Nazis übergelaufen waren, gegen das Scheunentor bei uns auf dem Hof genagelt und mit Stacheldraht ausgepeitscht. Der letzte Akt war, dass die Soldaten durchgeladen haben, als die Kollaborateure schon bewusstlos am Scheunentor hingen, und sie erschossen haben. Darüber spricht heute kein Mensch mehr.

ZEITmagazin: Wurden Sie zufällig Zeuge dieses Martyriums?

Jürgens: Wir hatten das Geschrei auf dem Hof gehört, als wir in den Büschen spielten. Und dann sind wir da hin und sehen diese blutenden … Man kann das fast nicht erzählen, es ist zu schlimm. Ich weiß noch, dass ich mir die Hände vors Gesicht gehalten und dann die Finger gespreizt habe. Ich habe nicht begriffen, wer da wen schlägt. Ich habe überhaupt nichts begriffen, weil der Krieg ja zu Ende war. Als die Schüsse fielen, sind wir aufgesprungen und weggelaufen …

ZEITmagazin: Wie kriegt man diese Bilder wieder aus dem Kopf?

Jürgens: Ich weiß es nicht. Wenn du keinen eingebauten Mechanismus hast, damit diese Bilder verdrängt werden, dann kommst du mit deinem Leben eigentlich nicht mehr klar. Wenige Jahre später begann ja schon das deutsche Wirtschaftswunder. In den Mauern und Fenstern waren überall noch Löcher drin, aber die Straßen waren aufgeräumt. Langsam begann man zu begreifen, was die Nazis gemacht hatten. In unserer Familie war mein Onkel Werner Soldat gewesen, Offizier der Deutschen Wehrmacht und gleichzeitig Mitglied der Kommunistischen Partei. Der war ein geistiger Linker. Weil er ein hochintelligenter Typ war, wurde er dann für die SPD Oberbürgermeister von Frankfurt am Main.

ZEITmagazin: Sie selbst sind als Sympathisant der Sozis bislang nicht aufgefallen, trotz vieler sozialkritischer Lieder, für die Sie berühmt geworden sind.

Jürgens: Gewählt habe ich in meinen jungen Jahren immer CDU, also die ÖVP, ich konnte ja nicht CDU wählen als Österreicher. Ich habe geglaubt, wenn die Wirtschaftskraft in den Händen Konservativer bleibt, dann ist das vielleicht gut für ein Land. Sozialdemokrat konnte ich eigentlich nicht sein, aber der Gerechtigkeitsgedanke ist mir viel näher als der bürgerliche Gedanke. Mit Bruno Kreisky war ich später sehr befreundet …

ZEITmagazin: … der ja sozialdemokratischer Bundeskanzler in Österreich war. Haben Sie ihn nie gewählt?

Jürgens: Doch, natürlich habe ich ihn gewählt, einmal, als er zur Wahl stand. Aber ich habe immer, bei allen Wahlen, Bauchschmerzen gehabt.

ZEITmagazin: In Ihrer Heimat Kärnten gab Jörg Haider lange den Ton an, er hat sich auch gerne mit Ihnen fotografieren lassen. Haben Sie dem auch mal Ihre Stimme gegeben?

Jürgens: Um Gottes willen, nein. Aber ich war mit Haider per Du.

ZEITmagazin: Wirklich?

Jürgens: Der hat alle geduzt, die er gut fand: „Servus, Udo, wie geht’s dir denn?“ Aber ich habe ihm natürlich über die Medien und auch unter vier Augen gesagt: „Jörgel, was ihr da macht, ist scheiße. Diese Politik nahe dem Rechtsradikalismus wird sich ganz grandios politisch rächen.“ Er kam trotzdem gerne zu meinen Konzerten.

ZEITmagazin: Was war in Ihrer langen Karriere die größte Demütigung?

Jürgens: Einmal habe ich in Hamburg meinen Onkel besucht, Erwin Bockelmann. Damals bin ich schon in berühmten Varietétheatern aufgetreten, aber ich war noch nicht so erfolgreich. Bei meinem Onkel zu Hause fand ein Abendessen mit sehr wichtigen Leuten aus der Hamburger Gesellschaft statt. Seine beiden Söhne Peter und Wolli waren natürlich dabei, aber ich passte offenbar nicht so ganz zum Elbchaussee-Stil.

ZEITmagazin: Ihr Onkel wohnte an der Elbchaussee?

Jürgens: Er hatte eine der schönsten Villen, neben der Oetker-Villa, unbeschreiblich. Er war Chef der BP, hat in Hamburg die BP-Werft gebaut, und dann wurde er zum Präsidenten des Welt-Ölkongresses gewählt. Er war eine imponierende Erscheinung: 1,90 Meter groß, dunkelhaarig und schwarze Augen, hochintelligent, einfach ein Wirtschaftskönig. Und der hat mich dann reingebeten in sein Arbeitszimmer, er saß da hinter seinem Schreibtisch. Da zitterte mir schon die Seele. Er sagte also: „Junge, nimm mal Platz. Nicht dass du das falsch verstehst, aber wir haben heute Abend hier den Bürgermeister der Hansestadt Hamburg, da kommt auch noch dieser Politiker, und das ist alles eine piekfeine Angelegenheit. Ich weiß, dass dich das langweilen würde.“

ZEITmagazin: Das war also eine Ausladung?

Jürgens: Ja, er hat mich weggeschickt. Er gab mir 20 Mark und sagte: „Geh ins Kino, mach dir einen schönen Abend. Du kommst einfach um elf Uhr wieder.“ Und da habe ich gesagt: „Selbstverständlich, ist schon klar.“ Aber ich war natürlich verletzt. An dem Abend bin ich auf der Reeperbahn in eine Bar gegangen, und die Geschichte ist jetzt wirklich unglaublich …

ZEITmagazin: … erzählen Sie!

Jürgens: Ich saß am Tresen, ein paar Leute lungerten herum, und ich hatte vor, mir ein paar Drinks zu genehmigen. Da war so ein dicker Barmann, sehr freundlich, mit dem ich ein bisschen geredet habe. Und der hatte ein Radio. Plötzlich höre ich eine Einleitung, die klang so vertraut. Auf einmal singt da Shirley Bassey I Reach For The Stars. Und ich dachte, was ist denn hier los, das ist ja mein Lied! Das hatte ich geschrieben und einem Münchner Verleger gegeben, der Verbindungen nach Amerika hatte: Ralph Siegel, dem Vater vom jetzigen Siegel.

ZEITmagazin: Sie wussten nicht, dass Shirley Bassey Ihr Lied übernommen hatte?

Jürgens: Das ging alles so schnell, ich war unterwegs in Deutschland, spielte an irgendeinem Theater und hatte die Benachrichtigungen in der Post wochenlang nicht so genau verfolgt. Und dann höre ich plötzlich dieses Lied. Ich bin hinter die Bar gelaufen, habe den Mann umarmt und gesagt: „Das ist mein Lied!“ Der hat mir natürlich kein Wort geglaubt und hat milde abgewinkt. Aber für mich war es der schönste Abend meines Lebens.

ZEITmagazin: Bald darauf ging Ihre Karriere richtig los.

Jürgens: 1969 begann ich eine Tournee mit 266 Konzerten durch ganz Europa, bis nach Rumänien und Bulgarien. Überall ausverkauft. Das Auftaktkonzert fand in Hamburg statt. Und da passierte wieder so eine unglaubliche Geschichte: Plötzlich, als das Konzert eine Viertelstunde vorbei war und die Leute noch immer jubelten, bin ich noch mal rausgegangen auf die Bühne. Ich war schon umgezogen und trug nur einen Bademantel, geschlossen natürlich.

ZEITmagazin: Das ist mittlerweile Ihr Markenzeichen, das machen Sie am Ende jedes Konzerts.

Jürgens: Da ist der Bademantel-Mythos entstanden. Die Leute haben geschrien, das kann man sich nicht vorstellen. Sie fielen in Ohnmacht, wenn sie mich nur gesehen haben. Ich war ja damals das Idol der 19-Jährigen. Es gab eine Umfrage nach den Vorbildern der Gesellschaft, und da war ich bei den 19-Jährigen auf Platz zwei, nach Mao Zedong. Also, das war was …

ZEITmagazin: Und wie war nun die Geschichte in Hamburg?

Jürgens: Na, ich spielte im Bademantel noch ein paar Lieder, dann ging ich ab, und die Leute stürmten die Bühne und auch den Garderobentrakt. Damals gab’s noch keine Security wie heute. Mindestens 200 Leute standen in den Gängen, vor meiner Tür, und schrien. Ich falle verschwitzt in einen Stuhl. Plötzlich sagt einer: „Da draußen steht ein Herr, der behauptet, er sei ihr Onkel. Groß, schlank, sehr gut angezogen. Der fragt, ob er reinkommen darf.“ Da sage ich: „Um Gottes willen, der Erwin ist da. Selbstverständlich, bitten Sie ihn rein!“ Die Tür geht auf, der Onkel Erwin betritt meine Garderobe, mit ernstem Gesicht: „Entschuldige, dass ich störe, darf ich dich einen Augenblick sprechen?“ Ganz unterwürfig. Und dann sagte er, bevor ich was sagen konnte: „Ich möchte dich um Verzeihung bitten.“ Er hatte sich in das Konzert geschlichen …

ZEITmagazin: Hat Ihr Onkel sich dafür entschuldigt, dass er Sie bei dem Abendessen an der Elbchaussee nicht dabeihaben wollte?

Jürgens: Ja, er fragte mich: „Kannst du mir verzeihen?“ Da haben wir beide geheult und uns umarmt. Unsere Irrtümer bescheren uns manchmal die größten Glücksmomente im Leben. In diesem Fall war es der Irrtum meines Onkels.

ZEITmagazin: Sie haben mal gesagt, Sie hätten noch nie ein Konzert in den Sand gesetzt. Aber kürzlich sind Sie bei einer privaten Veranstaltung eines Betonunternehmers bei Hannover förmlich gegen eine Wand gefahren. Man sieht es in einem Film, den der ZEIT-Redakteur Hanns-Bruno Kammertöns und Michael Wech für die ARD gedreht haben. Auch Gerhard Schröder war im Zelt. Die Leute saßen da wie angewurzelt …

Jürgens: … das war ein schrecklicher Abend.

ZEITmagazin: Was der Film nicht zeigt, ist, wie sich der Bauunternehmer, der stark angetrunken wirkte, das Mikrofon schnappte und Sie aufforderte, die alten Lieder vorzutragen. Dann würden auch die Leute mitgehen. Kommt in diesen Momenten das alte Gefühl der Demütigung zurück?

Jürgens: Ja. Aber so ein Konzert habe ich unter Tausenden nur ein Mal erlebt. Und am Ende sind wir doch als Sieger von der Bühne gegangen.

ZEITmagazin: Als die große Karriere begann, waren Sie schon mit Panja verheiratet, Ihrer ersten Ehefrau. Sie bekamen zusammen zwei Kinder: Jenny und John. Haben Sie sich durch den riesigen Erfolg von der Familie entfremdet?

Jürgens: Das war schlimm, weil in der Zeit mein Sohn geboren ist und was weiß ich was alles passiert ist. Ich konnte damals nicht nach Hause fahren, wie man das heute tut, weil ich gerade in Japan auf Tournee war. Man hat ein schlechtes Gewissen. Man weiß, dass man Fehler macht. Aber damals, in den sechziger Jahren, stand die Pflicht an erster Stelle. Dann kam die Familie. So hatten wir das gelernt. Heute ist das undenkbar.

ZEITmagazin: Aber war es Ihnen nicht auch ganz lieb, immer wieder aus der Enge der Familie auszubrechen?

Jürgens: Die Tournee hat mir natürlich ein Paradies an Leben vermittelt. Ich habe in dieser Zeit Sachen erlebt, die man eigentlich gar nicht erleben konnte. Ich werde nie vergessen, wie Willy Brandt aufgestanden ist, als ich einen Raum betrat, und mich begrüßt hat. Da war mir klar: Mensch, wenn du heute einen Raum betrittst, tanzen alle nach deiner Pfeife. Wehe, man fängt dann an, sich selbst so wichtig zu nehmen! Von diesem Punkt an macht man Fehler, auch gegenüber seiner Familie. Aber in den Dreißigern denkt man diesen Gedanken nicht bis zu Ende.

ZEITmagazin: Man verdrängt es?

Jürgens: Du genießt diese Wertschätzung nach dem langen Warten: dass du es deinem Onkel zeigen konntest und dass deine Familie stolz auf dich ist und dass du es geschafft hast, erfolgreich zu sein in der ganzen Dynastie. Es war diese Phase im Alter zwischen 30 und 40, in der du einen Höhepunkt an Leistungsfähigkeit erreichst. Ich habe damals ja mit Fred Bertelmann und Bully Buhlan gesungen. Zarah Leander habe ich persönlich gekannt, und mit Marlene Dietrich habe ich zusammen auf der Bühne gestanden.

ZEITmagazin: Sie sind mit Marlene Dietrich aufgetreten?

Jürgens: Das war bei einer Sendung, die von Heinz Erhardt moderiert wurde: Baden-Badener Roulette, in Schwarz-Weiß, wunderbar. Marlene Dietrich sang bei den Proben ein einziges Lied, Sag mir, wo die Blumen sind. Uns blieb allen die Luft weg. Dann war ich dran, und als ich wieder von der Bühne abging, wer stand da plötzlich? Die Dietrich. Mir rutschte ein bisschen das Herz in die Hose, sie war so eine Legende. Da hing jedenfalls ein großes Schild, „Rauchen verboten“. Aber sie holte eine Packung amerikanischer Zigaretten raus und bot mir eine an. Ich sage zu ihr: „Gern, aber hier ist Rauchverbot.“ Da sagte die Dietrich: „Um solche Schilder habe ich mich noch nie in meinem Leben gekümmert, bitte rauchen Sie eine mit mir.“

ZEITmagazin: Das traut sich heute nur noch einer in Deutschland.

Jürgens: Ja, Helmut Schmidt, wunderbar. Also, wir rauchten und kamen ins Gespräch. Und dann fragte sie: „Was machen Sie denn heute Abend? Gehen wir doch zusammen essen! Ich stelle Ihnen gleich meinen Musical-Direktor vor.“ Das war Burt Bacharach.

ZEITmagazin: Der große amerikanische Komponist.

Jürgens: Ich habe mir gedacht, was ist denn heute los? Und so saß ich abends mit denen beim Abendessen. Wir haben viel gelacht, viel geraucht, die Dietrich hat Kette geraucht wie meine Mutter.

ZEITmagazin: Und auch getrunken?

Jürgens: Ja, ordentlich, wir haben alle getrunken. Ich erinnere mich nicht an einen Musiker, der in dieser Zeit nicht getrunken, um nicht zu sagen: gesoffen hat. Ich habe weniger gesoffen, aber ich war oft betrunken.

ZEITmagazin: Mit 33 Jahren hatten Sie einen schweren Zusammenbruch.

Jürgens: Ja, hatte ich. Aber bis dahin war es immer sehr lustig. Nach jedem Konzert wurde getrunken, vor jedem Konzert wurde getrunken. Bei jedem Essen wurde getrunken, und hinterher in irgendeiner Bar wurde auch getrunken. In jeder Stadt, ob in Madrid oder in Berlin oder in Tokio, haben wir zuerst nach dem besten Club der Stadt gefragt. Da mussten wir hin. Alka Seltzer war das Wichtigste, was man nehmen musste, wenn man nach Hause kam. Und dann bin ich einmal in Neapel zusammengebrochen.

ZEITmagazin: Mal abgesehen von diesem Zusammenbruch: Sie haben damals doch ein beneidenswert aufregendes Leben geführt?

Jürgens: Das haben wir, und das wurde so akzeptiert. Die Leute wussten einfach: Diese erfolgreichen Künstler leben relativ fröhlich. Das hat man aber auch bewundert, das hat man erwartet. Das war Teil des Mythos: „Der kann alle Frauen haben.“ Nicht nur die Männer haben einen dafür bewundert, sondern vor allem die Frauen. Wer so ein Image hatte und in irgendein Lokal gegangen ist, den wollten in diesem Lokal alle haben.

ZEITmagazin: Verzeihen Sie mir die arg persönliche Frage. Aber eine Sache habe ich nie verstanden: Warum haben Sie sich immer auf so junge Frauen eingelassen? Ihre zweite Frau Corinna zum Beispiel war erst 16 Jahre alt, als Sie sich kennenlernten.

Jürgens: Ich weiß es nicht. Vielleicht weil diese Frauen viele Jahre lang immer diejenigen waren, die von sich aus die Nähe am meisten gesucht haben. Die haben die Popmusik und die Schlagermusik geliebt, die haben einen angehimmelt. Ich habe darüber einfach nicht nachgedacht. Das liegt auch relativ lange zurück. In meinem Alter heute könnte ich mir das nur mit jemandem vorstellen, mit dem ich auf einer Augenhöhe bin.

ZEITmagazin: Haben Sie denn das Gefühl, dass die Zeiten prüder geworden sind? Dass schon meine Fragerei dafür ein Beleg ist?

Jürgens: Ja, es ist eine komplett andere Zeit! Damals war auch die Homosexualität verboten, aber wir hatten alle schwule Freunde. Unser Beruf ist zum Teil einfach schwul. Mode, Kino, Schauspiel – da war die Homosexualität wesentlich mehr verbreitet. Jeder wusste es, und man hat sich darüber keine Gedanken gemacht. Heute spielt die Sexualität eine immer größere Rolle. Man spricht heute auch mehr über Sex als früher, und vor allen Dingen will man dabei jetzt auch die Seele bloßlegen. Das macht Angst, und es wird wahrscheinlich eine neue Verdrängung von Sexualität kommen.

ZEITmagazin: Sie haben aber über Ihre Beziehungen selbst in zahllosen Interviews gesprochen. Überliefert ist der schöne Satz: „Meine Geliebten waren immer zufrieden mit mir, die Ehefrauen weniger.“

Jürgens: Man redet viel, wenn man viel gefragt wird.

ZEITmagazin: Würden Sie denn im Rückblick auf diese ganze Zeit sagen, das Primat der Musik über die Familie war richtig?

Jürgens: Heute sagen meine Kinder, es war richtig. Sie wissen natürlich auch, dass ein relativer Wohlstand erarbeitet wurde, an dem sie letztlich auch partizipieren und partizipieren werden. Ich bin 80 Jahre alt …

ZEITmagazin: … und da ist einiges zusammengekommen. Sie haben allein 100 Millionen Platten verkauft.

Jürgens: Ja, es ist einiges zusammengekommen, sicher. Ich habe immer gut gelebt, aber trotzdem …

ZEITmagazin: Glauben Sie denn, dass Ihre Kinder aufrichtig sind, wenn sie sagen, Sie hätten es richtig gemacht? Sie haben denen doch früher bestimmt enorm gefehlt.

Jürgens: Wir versuchen das jetzt nachzuholen. Gestern hat mein Sohn mich angerufen: „Papa, du fehlst mir einfach. Wir müssen was machen, damit wir uns wiedersehen. Du sagst schon seit Jahren, dass du weniger machen willst.“ Und das habe ich mir wirklich ganz groß auf die Fahne geschrieben. Ich habe ein paar Warnschüsse bekommen, Schwindelattacken und solche Geschichten, die vielleicht mit dem Alter Hand in Hand gehen. Und ich will auch mehr Zeit für John und Jenny und meine Enkel haben.

ZEITmagazin: Aber der Vater fehlt ja nicht, wenn man 40 oder 50 ist, sondern wenn man klein ist!

Jürgens: Das ist richtig. Aber es stimmt auch nicht, dass ich nie da war. Wenn ich da war, haben wir unglaublichen Spaß gehabt. Die Jenny kann heute noch Lieder singen, die wir zusammen beim Spazierengehen gesungen haben. Aber Panja und ich hatten eine nicht funktionierende Ehe. Weil zu Hause nichts klappte, habe ich natürlich andere Beziehungen gehabt. Meine Frau hat andere Beziehungen gehabt, von denen ich wusste. Das ist ganz offen gelebt worden, und das ging eigentlich auch ganz gut. Wir haben den Kindern immer nur das gesagt, was sie verstehen können. Sie haben über diese Geschichten keine Probleme bekommen.

ZEITmagazin: Sie haben eindrucksvoll von dem Rausch gesprochen, den Sie auf der Bühne erleben. Finden Sie, dass dieser Erfolg auch wärmt?

Jürgens: Nein, eindeutig nicht. Wärmen tut es, wenn ein Freund oder eine Freundin anruft, und du spürst aus der Stimme, wir müssen uns wiedersehen. Wenn mein Sohn anruft, wenn meine Tochter anruft, wenn wir gut miteinander kommunizieren: Das ist das, was ich unter dem Bleibenden verstehe. Dafür tue ich immer noch zu wenig. Es kommen jetzt aber Zeiten, in denen ich mich mehr um meine Kinder und Enkelkinder kümmern möchte. Meine Tournee ist keine Abschiedstournee, aber ich möchte mich davon verabschieden, zu sehr ein Produkt zu sein. Ich will, dass die Menschen bei dieser Tournee noch mal den Rausch empfinden, den auch ich empfinde. Das werde ich jetzt mit allem, was mir zur Verfügung steht, ernsthaft zu Ende bringen. Danach habe ich keine so ausgedehnten Tourneen mehr vor, aber ich hoffe doch, dass ich weiterhin Konzerte geben kann. Ich lasse alles auf mich zukommen, auch ob ich noch genug gute Ideen für neue Lieder habe.

ZEITmagazin: Einige Ihrer Textzeilen sind ja in die Alltagssprache eingegangen.

Jürgens: Stimmt.

ZEITmagazin: Zum Beispiel: „Mit 66 Jahren ist noch lange nicht Schluss!“ Was ist denn mit 80 Jahren?

Jürgens: Die Zahl 80 eignet sich nicht für ein Lied. Mit 66 Jahren ist der Mensch in einer Situation, wo er noch alles machen kann. Er kann sich trennen, sich scheiden lassen. Wenn ein 80-Jähriger sich scheiden lässt, fragt man sich: Spinnt der Alte? Jetzt muss ich meinem Alter gerecht werden.

ZEITmagazin: Haben Sie denn endlich eine Antwort auf die Frage gefunden: „Wo bleibt die Liebe, wenn sie geht?“

Jürgens: Ach, das Lied ist der Versuch, eine Antwort zu finden. Und die Antwort ist eben poetisch. Wenn ich mir im Lied vorstelle, dass die Liebe an den Bäumen zu Blüten wird, dann kann ich damit nichts anfangen. Aber schöne Bilder beruhigen die Gedanken. Denn die Antwort kennen wir ja alle nicht. Der Schlusssatz des Liedes, um den ich mit der Autorin lange gerungen habe, der allerdings stimmt.

ZEITmagazin: Nämlich?

Jürgens: „Langsam heilt die Zeit die Wunden, denn du hast herausgefunden, dass für dich die Liebe – neu entsteht …“

ZEITmagazin: Und, haben Sie genug geliebt?

Jürgens: Im oberflächlichen Sinne, ja. Im Sinne von wirklich Liebe weitergeben und anderen helfen, da muss ich zugeben: Wahrscheinlich habe ich nicht genug geliebt.

Mitarbeit: Caroline von Bar

 

Erstveröffentlichung im ZEIT Magazin 36/2014